Lüneburg, am Mittwoch den 05.02.2025

Wir lassen uns nicht behindern

von Carlo Eggeling am 26.12.2024


Wir lassen uns nicht behindern
Die Anfänge der Lebenshilfe in der Region gehen auf couragierte Eltern zurück. Vor sechs Jahrzehnten begann die Geschichte. Drei, die anpackten, waren Renate Börner, Hans Thon und Bernd Beiersdorf

Renate Börner und ihr Mann Klaus waren ziemlich allein, als sie erfuhren, dass ihr Sohn Andreas schwerstbehindert ist. 1961 geboren, erlitt er nach einer Pockenimpfung eine Hirnschädigung, in der Klinik kam eine Virusinfektion dazu. Ärzte sagten: "Das wird schon, ein Spätentwickler." Es wurde nichts. "Damit wurden wir entlassen aus dem Hamburger Krankenhaus", erinnert sich die heute 88-Jährige. Renate Börner suchte: Eine Krankengymnastin half, eine Lehrerin trainierte die Sprache des Jungen, der gerade mal "Mama" sagen konnte. "Es gab nichts, keine Hilfe." Als Andreas vier war, sollte die Lüneburgerin ihn in eine "Anstalt" geben. Undenkbar.

Was für Renate Börner und ihre Familie vor sechs Jahrzehnten eine persönliche Herausforderung war, bedeute für Lüneburg einen Anfang, den Beginn der Lebenshilfe, die heute rund 1000 Mitarbeiter an 41 Standorten zählt.

Einschulungstermin. Renate Börner erinnert sich. Die Lehrerin fragte: "Was wollen sie denn hier mit so einem Kind?" Es klang wie Ausschuss. In der Heiligengeistschule traf sich eine Vorbereitungsklasse, eineinhalb Stunden am Tag, zwei Dutzend Kinder mit Down-Syndrom oder Spastiken. Verwahren statt fördern. Aber es gab eben noch mehr Kinder, die betroffen waren. Eltern taten sich zusammen, organisierten eigenen Unterricht.

Sie suchten sich Hilfe bei Oberbürgermeister Alfred Trebchen und Oberstadtdirektor, dem Verwaltungschef, Hans Heinrich-Stelljes, der auch einen behinderten Sohn hatte. Die Eltern gründeten eine heilpädagogische Tagesstätte, der Plan war ein Bau für 60 Kinder. Ein Drittel der Kosten sollten sie selbst aufbringen. Die anderen Zweidrittel trugen Land und Stadt. Die Eltern baten Firmen und Bürger um Unterstützung -- sie schafften es. Renate Börner: "Die Lebenshilfe wurde die erste Bürgerinitiative Deutschlands."

Förderverein und Lebenshilfe schlossen sich schließlich zusammen. Emmy Sprengel, eine Lehrerin bei der jungen Lebenshilfe, habe sie angesprochen, zwei Vereine mit demselben Anliegen, das mache doch keinen Sinn.

Die persönliche Betroffenheit führte auch den im März diese Jahres verstorbenen Hans Thon zur Lebenshilfe, seine behinderte Tochter Susanne. Thon hatte als Chemielaborant gearbeitet, dann engagierte er sich für den Wirtschaftszweig der Lebenshilfe. Am Benedikt gab es einen Tisch mit fünf Behinderten, die für Firmen kleine Arbeiten erledigten, dazu ein Büro an der Gummastraße. Die Lebenshilfe fragte Thon, ob er Geschäftsführer werden wollte. Wollte er. Er studierte nach der Abendschule nebenbei Betriebswirtschaft.

Er kümmerte sich um Aufträge regionaler Firmen wie der Loewe-Pumpenfabrik, beantragte Fördergelder in Hannover. Er besorgte neue Räume, die Lebenshilfe wuchs. In den großen Hallen in der Vrestorfer Heide fanden eine Wäscherei, eine Tischlerei, eine Druckerei, eine Küche samt Lieferservice Platz. Der Sandkrug eröffnete mit einem Lokal am Sand. Thon hatte den Vorsitz in der Landesarbeitsgemeinschaft der Niedersächsischen Lebenshilfen inne.

Unter Thon begann die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe im Kreis Harburg, Ende 1982 kommt der Zusammenschluss. Ein Werkstattzentrum wie in Lüneburg entstand auch in Tostedt. Dazu kamen weitere Firmengründungen der gemeinnützigen GmbH. In Harburg begleitete Bernd Beiersdorf als langjähriges Vorstandsmitglied (1974–1999) und Vorsitzender des Vereins (1982–1999) den Aufbau der Lebenshilfe im Nachbarlandkreis. Wie in Lüneburg mussten die Freunde Hürden nehmen, um Angebote wie Kindergarten, Schule, Werkstatt, Wohnheim und weiteres auf den Weg zu bringen.

Der Lüneburger Verein um Renate Börner und Thon als Geschäftsführer arbeiteten zusammen, auch wenn es nicht immer reibungslos lief, so war das gemeinsame Ziel klar. Behinderte Menschen gehören dazu, am Arbeitsplatz als Nachbarn. Renate Börner beschreibt es so. In den Familien dreht sich viel um das behinderte Kind, doch es gebe eben auch Geschwister, die ein eigenes Leben bräuchten. Abstand sei gut -- für beide Seiten und ein eigenes Leben. Es entstand ein erstes Wohnheim in Embsen, später eins an der Von-Dassel-Straße.

Vieles ist einfacher geworden, wenn Familien ein behindertes Kind bekommen. Doch Renate Börner ist sich sicher: "Man ist heute genauso fassunlos wie wir damals, hat Angst." Doch Mütter und Väter könnten viel schneller Unterstützung finden. Das entlaste. Wichtig ist ihr, Behinderungen seien ganz unterschiedlich, manche der Betroffenen könnten beispielsweise einfacher in einen Arbeitsprozess integriert werden. Doch auch die Schwächeren dürften nicht verloren gehen, Unterstützung muss unterschiedlich ausfallen.

Doch sie weiß auch, dass nicht alles funktioniert hat. In der Vrestorfer Heide verschwanden Abteilungen wie Druckerei und Wäscherei. Sie konnten nicht am Markt bestehen, Fördermittel fielen weg oder reichten nicht -- und ohne die öffentliche Hand, die in der Verantwortung stehe, gehe es nicht. Trotzdem sagt sie: "Manchmal denke ich, ich träume, wenn ich die Werkstatt in Vrestorf sehe."

Hans Thon ging 1992, nach der Wende. Er begann eine neue Laufbahn in Parchim, machte aus einer alten Fabrik ein Einkaufszentrum. Renate Börner stand 32 Jahre an der Spitze der Lüneburger Lebenshilfe, zwei Jahrzehnte war sie 2. Bundesvorsitzende. Sie hat in ihrer Zeit die Gründung des Familienentlastendes Dienstes, den Betreuungsverein und die Lüneburger Assistenz begleitet.

Renate Börner und ihre Wegbegleiter haben viel geschafft. Ihr Sohn Andreas auch. Keine Anstalt. Er arbeitete in der Werkstatt für Behinderte, lebt in einem Wohnheim am Mühlenkamp. Natürlich kann er sprechen, er kann malen. Eins seiner Bilder hängt im Seniorenheim über dem Bett seiner Mutter. Sie freut sich jedes Mal, wenn ihr Blick darauf fällt. Der Kampf hat sich gelohnt. Nicht nur für die Börners. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


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