Lüneburgs Wasserseite — Wie sich die Stadt verändert
von Carlo Eggeling am 30.03.2023
Der Name verrät, worum es geht: Werder bedeutet Insel. Im Lüneburger Wasserviertel beim Hotel Bergström ist davon kaum noch etwas zu erkennen. Die Ilmenau stürzt sich an der Brausebrücke kopfüber ein paar Meter tief ins Hafenbecken am Alten Kran. Doch das Viertel sah vor eineinhalb Jahrhunderten noch ganz anders aus. Dann baute Lüneburg um. Dr. Werner Preuß schreibt darüber in den Aufrissen, dem Heft des Arbeitskreises Lüneburger Altstadt (ALA).
Auf dem Werder lagen die Lüner Mühle, der Alte Kran, die Straßen Fischmarkt und Werder sowie Kaufhausstraße und Altes Kaufhaus. Den heutigen Lösegraben gab es vor 150 Jahren noch nicht, er entstand erst 1874, um ein Überflutungsproblem der Stadt zu lösen. Durch das alte Viertel floß der kleine Lösegraben, der "überschüssiges Wasser" von Lüner und Abtsmühle ableitete. Zudem waren Teile der Wallanlagen vorhanden, die Verteidigungsbauten der Stadt. Schießgraben erinnert bis in unsere Tage an die militärische Vergangenheit.
Rudolf Jochmus hat das Ensemble 1871 in einem Bild eingefangen. Zu sehen sind das Hotel Zum Schießgraben, weit später entstand in diesem Bereich das Bergström, der Turm der Abtswasserkunst und der kleinen Lösegraben als Wasserlauf mit Brücke.
Preuß zitiert aus den Erinnerungen des Fabrikanten Carl Ferdinand Heyn (1828 - 1896). Die Heyns waren für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt von großer Bedeutung. Mehr über die Heyns am Ende des Beitrags.
Der junge Heyn wohnte mit seiner Familie am Auslauf des Grabens am heutigen Werder 26 in einem der wenigen Lüneburger Fachwerkhäuser. Anfang der 1970er Jahre wurde es abgerissen und durch ein Appartmenthaus ersetzt, das sich nicht einmal den Anschein gibt, an die Lüneburger Geschichte anzuknüpfen.
Aus seiner Kinderzeit erzählt Heyn über das Fischen im Kleinen Lösegraben: "Die mittlere Ilmenau zwischen Abts- und Rathsmühlen hat nach der unteren Ilmenau einen Absturz von etwa acht Fuß und unserer Graben entwässerte durch den Keller jener Aalkiste. Dieser Keller hatten einen Lattenfußboden und wenn nachts die Schützen des Wehr gezogen wurden, so stürzte das Wasser durch den Keller in die untere Ilmenau, größere Fische und Aale auf dem Lattenfußboden zurücklassend. Da den Mühlen durch dieses Fischen mittelst Wasserablassen viel von ihrer Wasserkraft entzogen wurde, hat der Müller Behr in späteren Jahren gern zugegriffen, als das Haus zu verkaufen war." Man habe morgens "viele hundert Aale und manche schöne Lachsforelle" herausgeholt.
Vor Behr nutzte der Gerbermeister Simon Salomon das Haus und pachtete von der Stadt den kleinen Lösegraben, weil er für sein Handwerk viel Wasser brauchte. Umweltschutz spielte keine Rolle: Wenn die Männer die Felle enthaarten und Fleischreste abschabten, alles ins Wasser warfen, stank es nach Verwesung -- solche Betriebe siedelte man dementsprechend gern am Stadtrand an. Preuß schreibt, dass der Graben zeitweilig Judengraben geheißen haben möge, das könne sich vom Gerber Salomon hergeleitet haben, er war jüdischen Glaubens.
Neben Salomon arbeiteten weitere Gerber am Fluss. Was den Menschen stank, gefiel den Aalen prächtig: Im Aas der Abfälle tummelten sich Würmer und Larven -- ein Festschmaus für den Aal. Und der wiederum landete dann auf so manchem Lüneburger Teller.
Lüneburg baut um, entledigt sich seines einengenden Korsetts der Wallanlagen und Gräben. So lässt Stadtbaumeister August Maske den rund 3400 Quadratmeter großen kleinen Lösegraben 1884 zuschütten. Aus dem nahen Stadtgraben ist der Lösegraben geworden, den wir noch heute kennen. Der ursprüngliche Lösegraben wurde zugeschüttet und zu einem Wall. Diese Geschichte hängt auch mit der Eisenbahn zusammen. 1847 ist die über Lüneburg führende Bahnlinie Hamburg-Hannover eröffnet worden.
Stadtchronist Wilhelm Volger berichtet in seinen Erinnerungen über das Geschehen. Der Bahndamm durch den Tiergarten war fertig, nun wurde er ergänzt "bis zur Ilmenau beim Wandrahm. Nachdem ein Teil der Ilmenau nach Westen verlegt war, bildete er aber eine so große Fläche, dass auf demselben zwei große Warenräume erbaut werden konnten".
Die Straßendämme vor dem Altenbrücker und dem Lünertor wurden durch Brücken ersetzt, das Kanalbett verengt und vertieft. Der ursprüngliche Lösegraben, ein schmaler Graben, der vom Wandrahm bis nach Lüne führte, wurde zugeschüttet. Auch die Stadtwälle wurden eingeebnet. Später entstand dort die Schießgrabenstraße.
Bis Ende des Jahres 1874 habe der Damm das Bahnhofsgelände erreicht, "so dass der Verkehr nach Dannenberg und Buchholz eröffnet werden konnte", berichtet Volger. Es war ein gewaltiges Bauprojekt: Am Lüner und Altenbrücker Tor wurden Erddämme, die die Stadtgräben trennten, weggenommen und durch Notbrücken ersetzt, Wälle verschwanden, 700 Bäume wurden gefällt. Später entstand das Wehr.
Der Lösegraben dient bis heute als Entlastung der Ilmenau. Die war beispielsweise bei einem Hochwasser im Jahr 1841 so gewaltig über ihre Ufer getreten, dass das Wasser bis zur Papenstraße gelaufen war.
Das ALA-Heft beschäftigt sich mit weiteren Themen wie dem Gradierwerk und den Plänen für die Umgestaltung des IHK-Komplexes am Sand. Es kostet fünf Euro und ist über den ALA unter 04131 267727 zu beziehen. Carlo Eggeling
Noch eine Erklärung zur Familie Heyn.
Das Stammhaus Johann Ludwig Schulz & Sohn „war von dem Großvater meiner Mutter 1729 gegründet" worden, einem Spediteur, erzählt Heyn. Doch die Eisenbahn, die Lüneburg 1847 erreicht, versetzt dem Frachtgewerbe mit Pferd und Wagen den Todesstoß. Die weitsichtigen Heyns setzen längst auf ein weiteres Standbein: 1824 haben sie im ehemaligen städtischen Marstall an der Burmeisterstraße eine Fabrik gegründet, die Rohrzucker verarbeitet. Mitte der 1860er Jahre wird die Konkurrenz durch Zuckerrüben zu stark -- das Ende der Zuckerkocherei.
Ferdinand Heyn hat schon umgesattelt. Zunächst gemeinsam mit dem Hamburger Senator Tesdorpf gründen die Heyns Vor dem Bardowicker Tore eine Fabrik für Portlandzement. Schnell können sie ihre Teilhaber auszahlen, das höchst lukrative Geschäft alleine betreiben.
Der ehemalige Stadtarchivar Gustav Luntowski berichtet: „Die Heyn'sche Zementfabrik warf bereits in den 1870er Jahren einen Reingewinn von 200 000 bis 250 000 Mark ab. Dagegen betrugen die größten Hamburger Einkommen im Jahre 1866 100 000 bis 300 000 Mark." Dieselbe Summe, so Heyn selber, zahlt das Unternehmen an seine Arbeiter aus. Sein Erfolg lässt auch andere Erfolg haben: etwa die Reichenbach'sche Fassfabrik, die Behälter für den Zement liefert.
Mit anderen Kaufleuten engagiert sich Heyn im Wohnungsbau. So entstehen am Hohen Garten 38 Doppelhäuser. Sie verfügen über „eine Stube, zwei Kammern, Küche, Keller, Boden, Hofraum, Stall und Vorgärtchen". Die Nachfrage ist groß, die nächsten Häuser wachsen Vor dem Roten Tore in die Höhe. ca
Die Bilder hat Werner Preuß zusammengetragen.
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