Lüneburgs vergessener Friedhof
von Carlo Eggeling am 28.03.20231938 schändeten Nationalsozialisten den jüdischen Friedhof Am Neuen Felde. Acht Jahre später, 1946, also knapp ein Jahr nachdem die Engländer in die Stadt einmarschiert waren und damit Nationalsozialismus und Krieg zu Ende waren, stand in der Zeitung, was passiert war. Der Journalist wunderte sich, warum noch niemand die Verwüstungen geheilt habe: „Der jüdische Friedhof wurde von kräftigen Männern 'planiert', sodass kein Stein stehen blieb. Der damalige Stadtgärtner Rösner und der damalige Bote bei der Staatsanwaltschaft Tiedemann hätten sich aber noch nicht eingefunden, dies Unrecht in würdiger Form wieder gutzumachen. Herr Max Hopp würde keine Zeit haben, weil er noch bei den Licht- und Wasserwerken zu wichtigerer Arbeit gebraucht werde."
Ein bisschen kümmerte man sich in den langen bundesrepublikanischen Jahren danach um den Friedhof. Aber würdig sah und sieht es dort nicht aus. Das soll sich ändern. Die Christlich-Jüdische Gesellschaft bemüht sich, dem Ort mit Respekt zu begegnen. Der ehemalige Präsident des Oberverwaltungsgerichts und Sozialdemokrat, Herwig van Nieuwland, engagiert sich in der Gesellschaft und koordiniert das Vorhaben. Kurz nach der Kommunalwahl hatte die SPD im Rat im Dezember 2021 das Thema politisch ins Bewusstsein gebracht, Wochen später diskutierte der Kulturausschuss darüber.
Van Nieuwland berichtet, dass die Kosten einer Sanierung und Restaurierung sowie dem Anliegen, einen Gedenkort zu schaffen, mit rund 240 000 Euro kalkuliert werden: "155 000 haben wir zusammen. Verschiedene Stiftungen sowie die Stadt Lüneburg geben Geld, gerade hat die Klosterkammer in Hannover einen Zuschuss über 40 000 Euro bewilligt. Van Nieuwland rechnet noch mit Geld aus Berlin und ist optimistisch, dass Arbeiten im Mai/Juni beginnen können.
Zunächst soll das Totenhaus, die Trauerhalle, hergerichtet werden, aber auch die Grabmale und die noch vorhandenen Steine müssen bearbeitet werden. Mittels Bodenuntersuchungen möchten die Initiatoren die Gräber wieder nach alten Vorbild anlegen, denn nach den Verwüstungen ist im Wortsinne vieles verschoben.
Lüneburg blättert hier in einem düsteren Kapitel seiner Geschichte. Das Leben der Juden an der Ilmenau reicht weit zurück. 1288 erwähnt ein Dokument eine Judenstraße. Uta Reinhardt berichtet, dass die Gemeinde 1350 "infolge von Judenpogromen ein ebenso jähes wie grausames Ende" fand. Die ehemalige Leiterin des Stadtarchivs notiert, dass sich 1411 ein Hinweis auf eine Judenschule findet. 1739 erhält Pfandleiher Abraham Aarons einen Schutzbrief.
Doch die Juden sind zunächst keine wohlgelittenen Nachbarn. Mehrfach bemühen sie sich von 1755 an, einen Begräbnisort zu erhalten, erst 1823 klappt es. Abseits der Stadt, an der sogenannten „Taterschanze", dem heutigen Neuen Felde, erhalten sie rund 2000 Quadratmeter Fläche. 1827 bestattet die mosaische Gemeinde dort ihren ersten Toten. Die letzte Beerdigigung wird im September 1939 die von Betty Dublon sein. Da herrschen bereits die Nationalsozialisten, welche die Juden für Feinde und lebensunwert halten, die Verfolgung beginnt kurz nach der sogenannte Machtübernahme im Januar 1933 und wird immer schlimmer.
Noch einmal zurück. Die Juden wachsen im 19. Jahrhundert in die Stadtgesellschaft hinein, als Handwerker, Händler, Unternehmer und Bankiers. 1912 weihen sie auf dem Friedhof die Totenhalle ein, nach einem Entwurf Franz Krügers, dem Architekten, der Lüneburg geprägt hat, am sichtbarsten mit dem Wasserturm. Jüdische Familien engagierten sich in jenen Jahren in Turnvereinen, ihre Väter und Söhne waren wie andere auch national begeistert in den 1. Weltkrieg gezogen und waren verwundet worden oder gefallen, an drei von ihnen -- Hans Lindenberg, Richard Jacobson und Adolf Jacobsohn -- erinnert ein Gedenkstein. Die Familie Jacobson betrieb am Markt das Kaufhaus Gut und Billig, kurz Gubi. Die Jacobsohns führten ein Bankhaus, Betty Jacobsohn gehörte zum Vorstand des Vaterländischen Frauenvereins. Marcus Heinemann, heute ist wieder eine Straße nach ihm benannt, war Bankier und Salzgrubenbesitzer, er gab viel Geld für den Bau der Synagoge, bei der Familie Baden-Behr kauften Lüneburger ihre Schuhe, bei Schicklers Herren- und Knabenkleidung. Bei Paul Marx nahmen sie auf dem Zahnarztstuhl Platz.
Am 1. September 1892 legten Oberbürgermeister Lauenstein, der Landesrabiner Gronemann und Marcus Heinemann für die Gemeinde den Grundstein der Synagoge am Schifferwall, am 6. Juni 1894 weihen Honoratioren das Gotteshaus ein. Der Entwurf stammte von Stadtbaumeister Kampf, berichtet Sibylle Bollgöhn in ihrem Buch "Jüdische Familien in Lüneburg". Die Juden waren selbstbewusst, um 1900 zählte die Gemeinde rund 130 Mitglieder, doch in der Synagoge war Platz für 200 Gäste.
Die Zeit ändert sich. In den späten 1920er Jahren gewinnt die NSDAP, die Partei Hitlers, zunehmend Anhänger -- auch in Lüneburg. Aus ihrem Kampfblatt "Niedersachsen-Stürmer" tropft die Hetze gegen die Republik, die Demokratie und gegen Juden. Nur wenige glauben, dass die Nationalsozialisten das umsetzen, was in Hitlers politischem Logbuch "Mein Kampf" steht und womit sie drohen: Krieg in Europa und Verfolgung der Juden. Sie pressen jüdischen Geschäftsleuten ihre Unternehmen ab. Viele fliehen vor den Repressalien, es gelingt nicht allen, Millionen sterben später in den Konzentrationslagern.
Auch der Friedhof, der inzwischen nahe des um die Jahrhundertewende eröffneten Krankenhauses liegt, erzählt davon. Nazis stürzen und zerschlagen 1938 Grabsteine. Und weil die Herren anscheinend praktisch veranlagt waren, nutzen sie die Steine 1944 für ein Fundament und den Boden eines „Wohnbehelfsheims" -- so trampeln sie noch auf dem Andenken der Juden herum. Als die Baracke Jahre später abgerissen wird, entdeckten Arbeiter die Steine.
So recht hatte sich die Stadt ihrem Erbe nicht stellen wollen. In ihrem Buch notiert Sibylle Bollgöhn: Schon 1955 habe der Landesverband der Jüdischen Gemeinden die Stadt angeschrieben und gebeten, demolierte Scheiben der Kapelle zu ersetzen und eine Gedenktafel anzubringen. Doch im Rathaus fühlte man sich nicht zuständig, dazu sei "die Stadt Lüneburg mithin nicht verpflichtet".
Es gab ein langes Gerangel, 1200 Mark sollte ein Gedenkstein kosten. Die Stadt bat den Landesverband um einen „namhaften" Zuschuss. Schließlich kam es 1965 zu einer Einigung. Im Juni 1965 weihten Oberbürgermeister Alfred Trebchen (SPD) und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Norbert Prager, mit vielen Gästen auf dem Friedhof einen Gedenkstein ein, auf dem ein Davidstern zu sehen ist. Trebchen sagte: "Es waren Söhne und Töchter Lüneburgs, die selbst noch nach ihrem Tode mit Hass verfolgt wurden."
Das klingt nach der Übernahme von Verantwortung. Eigentlich. Doch drei Jahre später monierte Ratsfrau Sonja Barthel von der SPD, dass die zerschlagenen Steine noch immer nicht aufgestellt wurden, dass es an einem würdenvollen Umgang mangele. Schließlich verkaufte die Stadt Mitte der 60er Jahre das Zeugnis jüdischer Kultur in Lüneburg an den Landesverband jüdischer Gemeinden – für 473 Mark. Allein das wirkt nicht großherzig, warum verlangt die Stadt noch Geld?
Eine Tafel gibt es inzwischen. Die Stadt mäht den Rasen und kümmerte sich um Reparaturen, trotzdem bleibt der Zustand des Totenhauses mehr als trist. Vieles ist kaputt.
176 Bestattungen wurden Am Neuen Felde gefeiert, 30 Grabsteine sind zumindest in Resten noch vorhanden. Nun könnte Lüneburg hier dieses Kapitel seiner Geschichte aufblättern: Als Erinnerungsort mit Informationsveranstaltungen, Lesungen und würdig. Die sich heute engagieren, erinnern an eine zu lange verdrängte Geschichte. Carlo Eggeling
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