Im Amt Neuhaus bedeutet Heimat auch Vertreibung
von Carlo Eggeling am 10.01.2023Lüneburger Gesichter (41)
In lockerer Folge stelle ich unbekannte Bekannte vor
Das Sehnen nach Heimat
Im Amt Neuhaus bedeutet Heimat auch Vertreibung. Karin Toben hat ein neues Buch über Schicksale aus DDR-Zeiten geschrieben
Der Text findet sich auch im Quadrat-Heft
Wenn man die Elbe stromauf begleitet, von Neuhaus Richtung Dömitz, sich schlängelt und kurvt auf der Elbstraße oder sich auf dem Rad oben auf dem Deich in die Pedale stemmt gegen den ewigen Wind, macht man in Vockey Station. An der Pyramide. Aufgeschichtet aus dem Bruch von Ziegeln, Mauern, Mörtel, Steinen. Eine Erinnerung an die untergegangene DDR. "Als damals der Deich ausgebaut wurde, haben Arbeiter in einem Brack die Reste von mehr als einem Dutzend Höfen gefunden, die abgerissen und dort reingeworfen wurden", erinnert sich Karin Toben. Die Journalistin hat daraus 2006 mit anderen wie dem Gründer des Arbeitskreises Lüneburger Altstadt, Bildhauer und Bauexperten, Curt Pomp, die "Denkpyramide" gestaltet.
Abbruchbrigaden versenkten in dem 16 Meter tiefen Wasserloch geschleifte, gesprengte Häuser. Es war, als ob sich der Staat eines Kapitels seiner Unmenschlichkeit entledigen wollte, aus den Augen, aus dem Sinn. Karin Toben kennt die Schicksale, die sich hinter den nüchternen Daten, Zahlen, Fakten in Werken von Historikern verbergen. Sie hat sie aufgeschrieben in vier Büchern. Das jüngste ist gerade erschienen mit dem melancholisch-schönen Titel "Heimatsehnen nimmt kein Ende".
Zweimal ging der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden im Grenzgebiet massiv gegen die Einwohner vor: 1952 und 1961. Am Anfang hieß die Aktion ohne Zweideutigkeit "Ungeziefer", später verschleiernd "Kornblume". Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten sich zwei Blöcke gebildet, im Westen die USA und ihre Verbündeten, dazu zählte die Bundesrepublik; auf der anderen Seite die Sowjetunion mit Staaten an ihrer Seite, in denen Moskau die Linie vorgab. Die Grenze zog sich von Hof in Bayern bis zum Priwall bei Travemünde an der Ostsee, knapp 1400 Kilometer lang. Die Trennlinie zwischen den Blöcken wurde immer undurchlässiger mit Zäunen, Minen, Wachleuten, Hunden.
Besonders im Blick hatten die Herrschenden in der DDR die Menschen, die eng an der Grenze wohnten. Angeblich unzuverlässige Elemente, politische Gegner, aber auch angebliche Großbauern sollten verschwinden. 8000 Menschen siedelte das Regime vom westlichen Rand der DDR ins Landesinnere um. Karin Toben sagt: "Hier im Amt Neuhaus waren es 324 Personen."
Sie erzählt, wie es war, als Menschen Höfe verlassen mussten, die ihre Familien über Generationen bewirtschaftet hatten, die Haus, Vieh, Erinnerungen und Heimat blieben zurück. Auch Flüchtlinge traf es, die der Zweite Weltkrieg in seiner Wucht und Gewalt etwa aus Pommern und Schlesien im heutigen Polen an die Elbe geworfen und gespült hatte, sie mussten gehen -- nachdem sie glaubten, ein neues Zuhause gefunden zu haben.
Die jüdische Familie Blumschein ist ein Beispiel. Überlebt hätten die Verwandten die Nazi-Diktatur, weil sie sich hatten evangelisch taufen lassen, erzählten Nachfahren es Karin Toben. Sie hatten in Rassau einen Hof als Pächter übernommen. Am 7. Juni 1952 mussten Johann Blumschein und seine Familie weichen. Er hatte zu oft gesagt, dass die sozialistische Wirtschaft nicht funktioniere, sich beim Bürgermeister beschwert. Aus einer bäuerlichen machte die DDR eine kollektivistische Landwirtwirtschaft. Bauern mussten sich unter dem Dach Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften zusammenfinden, ihr Land war letztlich Eigentum der LPG.
Die Polizei hatte den Bauern Blumschein festgesetzt, dann seine Familie vom Hof geholt. Über den Bahnhof Brahlstorf wurden sie in Waggons mit der Aufschrift "Ungeziefer" Richtung Güstrow gebracht. Anders als andere konnten sie keinen Laster mit Habseligkeiten vollladen, sie durften nur ein paar Koffer mitnehmen. Karin Toben hat Verwandte und Bekannte ausfindig gemacht, die erzählten. Vom Schmerz, vom wirtschaftlichen Bruch, von Repressalien.
Von der Grenze und ihrem Schrecken ist nur noch etwas zu erahnen, alles verschwunden bis auf ein paar Wachtümre zum Mahnen und Gedenken. Manche Dörfer wie Kolepant, Schutschur, Pommau und eben Vockfey scheinen Erinnerung, ihre Namen stehen auf Tafeln. Gehöfte sind verschwunden.
Karin Toben sitzt in ihrem Wohnzimmer in Rassau, einen Steinwurf vom Deich entfernt. Sie stammt aus Ostfriesland, natürlich gibt es Tee der Firma Thiele mit Kluntje und Sahne in altem Porzellan. Wir reden bei Birnen, Bohnen und Speck, passt alles gut zu dem griesigen Dezembernachmittag. Seit 2005 besitzt sie ihr Haus. Hergerichtet mit viel Arbeit. Ankommen ist nicht einfach -- als Zugezogene. Doch sie schlägt Wurzeln.
Sie hat als Journalistin gearbeitet, lange Jahre als Bezirkskorrespondentin der Deutschen Presse Agentur in Lüneburg. Als sie das Amt Neuhaus entdeckte, entdeckte sie auch Geschichten, Wunden, die die DDR geschlagen hatte und die oft nur schlecht vernarbt sind. Sie ist notorisch neugierig, sie fragt, sie plaudert, sie saugt es auf, sie verbeißt sich und geht weiter, um mehr zu hören. Es geht gar nicht anders, es werden Reportagen daraus, persönlich, so detailreich, dass man manchmal denkt, sie muss die Tante oder Schwester dieser Familien sein mit einem Ehrenplatz an der Kaffeetafel. Aber dann wieder mit der Distanz, die für Journalisten selbstverständlich sein sollte, um erzählen zu können mit weitem Blick.
Karin Toben hat in ihren Büchern geschrieben, über Menschen, die aus der DDR flüchteten und ihren Helfern. Von den Familien, die noch heute zwischen Bohnenburg und Neu Bleckede zu Hause sind. Was passiert ist, vergeht nicht so schnell. Es trägt sich fort. Sie hat es aufgeschrieben. Einen Teil davon.
Eigentlich müsste noch ein Buch folgen. Eins über die, die an der Grenze ihren Dienst versahen. Von Partei-Funktionären, von Stasi-Mitarbeitern, von Nachbarn, die ihre Nachbarn ausforschten und meldeten. Wer will darüber reden, sich erklären gut drei Jahrzehnte nachdem die DDR zusammenbrach und heute für viele in eine Erinnerung an angeblich gute Zeiten gerinnt? Karin Toben ist 74 Jahre alt. Der Kopf ist immer noch voller Ideen. Wer weiß, ob sie auch noch dieses Kapitel aufschlägt? Es könnte ein Schlusspunkt sein.
Heimatsehnen. Heimat verändert sich. Das Land, die Menschen, das Gefühl. Aber es sollten Orte bleiben, die an das Vergangene erinnern. Die Pyramide in Vockfey ist so ein Platz. Selbstverständlich. Karin Toben kennt den Bezug: Das Grundstück gehört Holger Zerbin, der als Kind mit seinen Eltern ebenfalls zwangsausgesiedelt wurde und 1969 über die Elbe in den Westen geflohen ist. Ein Bild der Pyramide prägt die Titelseite ihres Buches. Nein, es nimmt kein Ende mit dem Heimatsehnen.
Carlo Eggeling
Karin Toben: Heimatsehnen nimmt kein Ende, Verlag Hermann Lüers, Jever
Fotos:
Karin Toben blättert in ihrem vierten Buch: Heimatsehnen nimmt kein Ende.
Die Pyramide steht zwischen Elbstraße und Deich in Vockfey. Aufgetürmt wurde sie 2006. Daneben erklären Tafeln die Geschichte des Ortes.
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