Lüneburg, am Dienstag den 29.04.2025

Höllisches Idyll

von Winfried Machel am 30.06.2023


Ehemaliger Erzieher soll sich mehr als zwanzig Jahre an Jungen vergangen haben. Prozess vor dem Landgericht beginnt

Die Anklage die Oberstaatsanwältin Nicole Lange in Saal 121 vorliest, ist schwer zu ertragen. In vielfältiger Weise soll sich Rainer L. an mindestens sechs Jungen von sieben bis 13 Jahren vergangenen haben. Als "Hausvater" hat er in einer Kinder- und Jugendeinrichtung im Landkreis gearbeitet. Das Haus trug den idyllischen Namen Tanne, doch für die Kinder und Jugendlichen war es kein Idyll, sondern eine Hölle. Am Freitagmorgen begann vor dem Landgericht der Prozess gegen den 63-Jährigen.

Der erste Fall liegt mehr als 20 Jahre zurück. Der Junge hatte sich damals seiner Stiefmutter offenbart. Die stellte die Verantwortlichen im Kinderdorf zur Rede, erstattete Anzeige, holte den Stiefsohnen aus dem Heim. Doch am Ende glaubte man dem Teenager nicht. Rainer L. konnte weiter in der Einrichtung bleiben, als geschätzter Kollege. Heute erfuhr der inzwischen verstorbene junge Mann oder besser seine Familie eine Genugtuung: Sein Leiden fand sich sehr detailliert in der Anklage wieder. Nicht er hatte gelogen.

Das Schicksal von fünf weiteren missbrauchten und malträtierten Jungen listet die Staatsanwältin auf. Ort, Zeit, Geschehen, sehr sachlich. Gerade die -- nötige -- juristische Nüchternheit machen die Bilder im Kopf noch grausamer. Tatorte sollen die Zimmer der Jungen, die kleine Wohnung Rainer L.s, das Haus seiner Eltern in Rostock, wohin er einen der Jungen mitnahm, und eine Ferienfreizeit im Harz gewesen sein.

Ich habe vor dem Prozessbeginn gemeinsam mit meinem Kollegen Johannes Koch über Wochen für den NDR recherchiert, Angehörige des ersten Jungen, ehemalige Mitarbeiter der Einrichtung und natürlich die Verantwortlichen im Kinderdorf befragt. Der Bericht lief Anfang des Monats im NDR-Fernsehen. Wir haben erfahren, dass es vergangenen Herbst erneut Anschuldigungen gegen L. gab, dass er sich an die Leitung des Kinderdorfs wandte, man ihn unter Druck setzte, zur Polizei zu gehen und sich selber anzuzeigen.

Eine Ermittlungsgruppe der Lüneburger Polizei trug vieles zusammen. Intern war die Rede von einem Dutzend Fällen, angeklagt sind noch sechs. Es mag also weitere missbrauchte Jugendliche geben, aber vielleicht reichte es nicht, um ihr Los beweissicher vor Gericht zu bringen. Ich habe eben mit der Schwester des mutmaßlich ersten Jungen gesprochen, den Rainer L. zu "Handlungen" gezwungen haben soll. Sie war selber in dem Kinderdorf und sagt: "Als alles jetzt bekannt wurde, haben mich einige angerufen, die wussten, dass es um meinen Bruder ging." Unter den Kindern scheint das Regime L.s also bekannt gewesen zu sein. Und auch, dass es möglicherweise weitere Jungen gab, die Übergriffe erdulden mussten und deren Namen sich nicht in der Anklage finden.

Auffällig ist, dass die Staatsanwältin konkrete Zeiträume nennt, in denen sich L. an den Kindern vergangen haben soll. 116 Taten listete Frau Lange auf. Doch dazwischen lagen "Pausen". Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand der offenbar abnorme Neigungen und die in dem abgeschotteten System der familienähnlichen Strukturen Gelegenheit hat, eben diese Neigungen nicht ausnutzt? Der zweite Punkt: L. hat bei der Polizei ein Geständnis abgelegt. Das muss sehr detailliert gewesen sein, da die Anklage Zeitpunkte und Tatgeschehen auflistet. Es dürfte eher unwahrscheinlich sein, dass die Jungen Buch geführt haben. Hat es Rainer L., eventuell in einem Tagebuch?

Im Kinderdorf setzen Leiter Andreas Olschewski und seine Kollegen auf Offenheit, ihre Vorgänger hätten damals kaum anders handeln können. Selbst die Staatsanwaltschaft habe das Verfahren Anfang der 2000er Jahre eingestellt. Kollegen hätten L. als vorbildlichen Kollegen geschildert, von dem man noch etwas hätte lernen können. All das bedauere man, mache es heute anders, biete den Betroffenen Hilfe an, habe mit den Ermittlungsbehörden kooperiert.

Rainer L. hat heute eine Erklärung abgegeben. Er nutzte sein Recht und ließ über seinen Anwalt Jonas Meese beantragen, die Öffentlichkeit auszuschließen, weil es um intimste Dinge in seinem Leben gehe. Die Kammer unter Vorsitz von Lidia Mumm folgte dem Antrag, die Öffentlichkeit sei durch die minutiöse Anklage über die vorgeworfenen Taten ausreichend informiert. Später wurden Aussagen der betroffenen Jungen verlesen.

In der kommenden Woche setzt die Kammer den Prozess fort. Dann wird auch der psychiatrische Gutachter gehört, der das Handeln Rainer L.s erklärbarer machen könnte. Verständlich nicht. Carlo Eggeling 

Ein Video zeigt Gerichtssprecherin Christina Edinger.



© Fotos: Carlo Eggeling


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