Lüneburg, am Dienstag den 24.12.2024

Geschichtsstunde — ein jüdisches Kinderheim in Lüneburg

von Carlo Eggeling am 14.06.2023


Der Wahn machte vor den Jüngsten nicht halt, rund eineinhalb Millionen jüdische Kinder wurden im Nationalsozialismus ermordet. Wer Lager und Verfolgung entkam, hatte oftmals viele Menschen aus der Familie verloren. Überlebende waren traumatisiert, unterernährt. In Lüneburg fanden einige Hundert Kinder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 zeitweilig eine Bleibe und Betreuung: von Ende 1945 bis September 1948. Bislang war wenig darüber bekannt. Das ändern nun Gabi und Peter Bauer, Bernd Bruhn und Peter Asmussen. Sie haben gemeinsam mit der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) eine Broschüre über diese Zeit veröffentlicht -- und blättern erneut ein Kapitel des Nazi-Zeit in Lüneburg auf. Es gab mehrere Stationen, bis das Heim in Ochtmissen bezogen wurde.



Die ersten 18 Jungen und 14 Mädchen im Alter zwischen zwei und fünfzehn Jahren kamen aus Berlin an die Ilmenau. Da das geplante Heim noch nicht fertig war, kamen die Kinder zunächst in Privatwohnungen und dann im Januar 1946 an der inzwischen verschwundenen Pension Heiderose an der Uelzener Straße unter. Hilfreich stand die Jüdische Gemeinde zur Seite. Die hatte sich frisch in Lüneburg gegründet, denn in der Stadt hatten nur zwei Menschen jüdischen Glaubens überlebt. Die Gemeinschaft bestand unter anderem ehemaligen Häftlingen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen.

In Unterlagen aus jenen Jahren ist nachzulesen, dass die Menschen nicht bei allen willkommen waren: "Da Lüneburg eine notorische Nazi-Stadt war, war es notwendig, bewaffnete Wachen aufzustellen, die jede Nacht vor dem Haus patrouillierten. Die Kinder litten: Sie vermissten ihre Eltern, sie kamen mit Krankheiten, mussten ins Krankenhaus. Nicht alle überlebten. Sie zu bestatten ging in Lüneburg nicht -- in der NS-Zeit war der Friedhof am Neuen Felde zerstört worden.



Zu einer weiteren Station wurde Mönchsgarten, schließlich ging es nach Ochtmissen. Das Haus des Schriftstellers Werner Jansen, dann ein NS-Mütterheim, und eine Baracke zum Schlafen in Höhe des heutigen Kindergartens wurden zur Unterkunft. Jansen, der sich 1931 in Ochtmissen niedergelassen hatte und das Gebäude eher als Ferienhaus nutzte, zählte zu den beliebtesten Autoren Heinrich Himmlers, dem Herrn über SS und Konzentrationslager. Jansens Texte waren rassistisch und völkisch. Er starb 1943 an einer Krankheit. Gegen den Widerstand seiner Frau wurde das Haus am heutigen Hotmannweg zum Kinderheim. Bis 2008 hieß der Straßenzug Werner-Jansen-Weg. Erst dann distanzierte sich Lüneburg von dem NS-Schriftsteller.



Die Broschüre beschreibt das Schicksal einiger Kinder. Der Leidensweg ist jedesmal ein anderer, aber manche gleicht sich: Die Eltern der Kinder mussten Zwangsarbeit leisten, wurden in Konzentrationslager deportiert, einige der Familien kamen nach Theresienstadt. Dort war die Chance zu überleben höher als in Vernichtungslagern wie Auschwitz.



In Lüneburg kümmerten sich, unterstützt von der britischen Militärregierung, vor allem Mitarbeiterinnen jüdischer Organisationen um die Kinder. Auch eine Lüneburgerin war darunter, die damals 19 Jahre alte Schwesterhelferin Marianne Wendelstorf. Auszüge aus ihren Erinnerungen finden sich in dem Heft: "Zu den ersten Transporten, die das Kinderheim erreichten, waren Kinder aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. Sie gehörten zu jüdischen Familien aus dem polnischen Bereich; einige wenige kamen aus Russland."



Marianne Wendelstorf erinnert sich an Senja, der mit seiner Mutter im Warschauer Ghetto lebte, die Mutter des Zwölfjährigen kam dort um. Die Nationalsozialisten hatten Nunjas Eltern in KZ verschleppt. Die Fünfjährige war von einer polnischen Familie versteckt worden, ihre Mutter hatte überlebt fand die Tochter wieder. Viele der Kinder und ihre Verwandten wanderten aus Deutschland aus etwa nach Israel.

Das Grauen und der Versuch, den Mädchen und Jungen, wenn es denn ging, ein wenig Normalität zu schenken, beschreibt das Heft. Dass es Menschen gab, die sich Mühe gaben, die Kinder in ein Leben zurückzuholen, macht Hoffnung, dass Menschlichkeit immer wieder keimt. Eine, die in Ochtmissen lebte, war Jutta Grybski, die später Janet Beasley hieß. Das Heft zitiert sie: "Es war eine Erholung für uns, wir waren drei und brauchten keine Angst mehr vor irgendjemand zu haben, und das war schon viel wert." Carlo Eggeling



Die Broschüre kann unter der E-Mail-Adresse vvn-bda-lueneburg@vvn-bda-lg.de zum Preis von 7,00 € (einschl. Porto) auf Rechnung bestellt werden. Zu erwerben ist sie ebenfalls im Museum Lüneburg, im Cafe Avenier in der Katzenstraße (Heinrich-Böll-Haus) und in der Buchhandlung Vogel in Reppenstedt.



Die Fotos stammen aus der Broschüre.

© Fotos: ca / VVN


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