Gemahlenes Mehl
von Carlo Eggeling am 15.03.2025Meine Woche
Gestern Abend war ich im Lüneburger Eisenwerk. Letzter Guss in dem Betrieb, dessen Geschichte bis 1842 zurückreicht. Männer mit kräftigen von Arbeit schwarzen Händen in staubigen Jacken und Hosen. Es war wie ein Besuch in einer anderen Zeit, die Hallen haben vor zwanzig Jahren wohl nicht anders ausgesehen. Nun haben sie eine Geschichte zu Grabe getragen. Die dritte Insolvenz in nicht einmal zehn Jahren. Die mehr als hundert Männer und ein paar Frauen haben unbezahlte Mehrarbeit geleistet, auf Lohn verzichtet. Immer in der Hoffnung auf das Versprechen der wechselnden Eigentümer: "Wir investieren."
Dem war nicht so. Da sind sich Insolvenzverwalter und IG Metall samt Betriebsrat einig. Niemand wollte das Werk jetzt übernehmen. Es gibt ein gutes halbes Dutzend andere Gießerei, die auch zum Verkauf stehen. Moderner. Warum sollte jemand die Vergangenheit kaufen, wenn er keine Zukunft sieht? Die ehemaligen Chefs dürften nicht so hart fallen, wie ein alter Schulkamerad, den ich traf. Er werde 62: "Was soll noch kommen? Gießereien gibt es hier nicht. Ich muss gucken." Nach Hoffnung klang es nicht. Die Gewerkschaft will sehen, wo sie Leute unterbringen kann. Vor der Kulisse einer angeschlagenen Wirtschaft, vor dem Hintergrund, dass das Auto pfui ist und das Land gerade merkt, wie abhängige es aber von der Autoindustrie ist.
Wunsch und Wirklichkeit, da klafft einiges auseinander. Wenn die Ostumgehung morgen wieder zur Rad- und Skatebahn wird, weil Initiativen gegen die Autobahn mobil machen, kommt vermutlich wieder der Mann, der erklärt, VW möge Straßenbahnen bauen. Das müssen verdammt viele Straßenbahnen sein, um Jobs zu erhalten und zu schaffen.
Ich habe mit einem ehemaligen Pastor zusammengesessen. Er komme aus kleinen Verhältnissen auf dem Land, das Nase in der Furche, nannte er es. Bauern, die nur mühsam vom Acker leben konnten, die aufstecken mussten. Der Bauernhof mit glücklichen Hühnern, Schweinen und üppigem Garten funktioniert schon vor 60 Jahren nicht mehr.
Es seien immer die sogenannten kleinen Leute, die diesen nicht aufzuhaltenden Wandel spürten, bilanzierte er. Es ist wie im Eisenwerk. Arbeiter und die sogenannten gering Qualifizierten müssen flexibel sein, um zu überleben. Ich glaube, viele können sich das gar nicht vorstellen in ihren großbürgerlichen Altbauwohnungen, in ihren energieeffizienten Häusern, in ihren Diskussionen, in denen sie noch die letzte Randgruppe sprachlich bedenken.
Ich lese gerade ein faszinierendes Buch. Rückkehr nach Rottendorf. Clemens Tangerding beschreibt, wie er auf dem Land Bildungsprojekte anschiebt zum Thema Nationalsozialismus. Anders als in der Stadt rede man auf dem Dorf und in kleinen Städten eher miteinander, auch wenn man anderer Meinung sei. Zwei Beispiele haben mich beeindruckt.
Er gab Aufträge an mehrere Gruppen von Studenten. Die Pole: Lange diskutieren versus hierarchisch. Ergebnis: Wo einer eine Ansage machen sollte, löste sich die Gruppe auf, man wolle über die eigenen Rollen sprechen, über Abläufe -- so autokratisch gehe das nicht. Mag sein, ist auch richtig.
Entscheidender bleibt, was auch andernorts zu beobachten ist: Leute reden darüber, was der andere meint, wen man alles bedenken muss, damit er sich nicht verletzt fühlt, den man nicht durch bestimmte Wörter verletzt. Sicher wichtig. Tangerding schneidet dagegen, die Menschen, die noch Ausländer sagen, aber in der Flüchtlingsunterkunft anpacken, die regelmäßig Zugewanderte in die nächste Stadt zum Sprachunterricht fahren. Falsches Wort, aber praktische Hilfe -- wahrscheinlich gegenseitige Akzeptanz.
Zweites Beispiel ist die Feuerwehr. Dömitz. Vorstellung des Projekts, Ideen, wo gibt es Material zur Geschichte? Einer habe dagesessen, schreibt der Autor, er habe mit Widerspruch gerechnet. Nichts. Der Mann sei mit Kameraden in Uniform und Feuerwehrauto zum Landesarchiv in Schwerin gefahren. Recherche in den Akten: "Da gibt es nichts für uns."
Feuerwehr. Aufgabe, angehen, abarbeiten, hinterher diskutieren, was besser laufen kann. Die Aufgabe eint, egal, wo einer sein Kreuz macht. Und die Menschen reden miteinander. Habe ich hier erlebt bei der Kinderfeuerwehr in Radbruch. Die Kleinen bewältigen gemeinsam eine Aufgabe, irgendwann üben sie mit den Mädchen und Jungen aus den Nachbarorten. "Das ist wie im Einsatz bei den Großen", hat mir die Leiterin gesagt. "Wir müssen da mit anderen zusammenarbeiten, die wir vielleicht nicht kennen, da müssen wir reden und es angehen."
Neulich gab es eine Demo gegen Rassismus auf dem Markt. Da stehen die, die sich einig sind, mit wem sie nicht sprechen. Wie wollen sie die anderen überzeugen? Sich gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, ist nötig, aber ändert perspektivisch wenig. Es reden die üblichen Gesichter die üblichen Worte. Ich bin gegangen. Welch Langeweile.
Ich frage mich, wie viele Altbau- und Effizienz-Haus-Bewohner ihre Kinder lieber ins Rote Feld zur Grundschule schicken als in Kaltenmoor, wo der Anteil von Kindern aus ausländischen Familien höher ist. Endet da die Toleranz? Ist bestimmt wieder eine rhetorische und damit gemeine Frage.
Geredet wird in Lüneburg gern. Die grüne Oberbürgermeisterin lädt zur vierten Stadtkonferenz ein. "Innenstadt im Wandel – Ziele, Zukunft, Zuversicht". Klingt toll. Zuversicht hatte auch der Grüne Robert Habeck als Motiv im Wahlkampf, wir sehen, wo das für ihn und seine Partei geendet hat. Egal. Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung sollen Ideen auszutauschen. „Online-Handel, Klimawandel, veränderte Mobilitäts- und Sicherheitsbedürfnisse und weitere Herausforderungen machen das unerlässlich“, heißt es dazu aus dem Rathaus.
Wer wollte das bestreiten. Allerdings gab es dazu bereits vor zwei, drei Jahren Gesprächskreise. Mehrere Geschäftsleute, die dabei waren, haben mir wieder erzählt, was aus ihren Konzepten geworden ist -- nichts: "Die liegen in irgendwelchen Schubladen. Ich gehe da nicht mehr hin. Was soll das?"
Energiekrise, Wirtschaft, Bildung, darum ging es die drei Male zuvor. Einer, der das mit organisieren musste, hat mir auf die Frage zum Ergebnis gesagt: "Man hat sich ausgetauscht und neue Netzwerke gebildet." Ich dachte, die kennen sich hier alle aus zig Arbeitskreisen. Nein, konkrete Ergebnisse gebe es nicht. Na dann.I ch würde sagen, mir gefällt das Modell Feuerwehr: Auftrag, Analyse, abarbeiten und am Ende ist das Feuer aus, die Menschen gerettet. Wer Lüneburg retten will, hat viel zu tun. In Sicht ist niemand.
Bleibt der Dichter Botho Strauß: "Die Mühlen des öffentlichen Bewusstseins mahlen leider nicht langsam, sondern immer wieder das schon gemahlene Mehl." Entspanntes Wochenende. Carlo Eggeling
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