Eine kleine Frau mit großem Herzen für die Goseburg
von Carlo Eggeling am 25.10.2023Wenn es so etwas gibt wie ein Gefühl altes Ruhrgebiet, dann trifft man es in Lüneburg in der Goseburg. Eingeklemmt zwischen der Bahntrasse Hamburg - Hannover mit ihren 350 bis 400 Zügen pro Tag und den Industriebetrieben an der Goseburgstraße stehen Blocks und Einfamilienhäuser mit Gärten, in denen noch Kartoffeln, Möhren und Stachelbeeren wachsen. Gisela Menke hat das geliebt, aber das Schmuddelige hat sie geärgert. Als Anwältin ihrer Heimat sagte sie: "Es muss ein Viertel wie jedes andere in Lüneburg auch werden." Da für hat sie sich eingesetzt, vieles erreicht, was immer noch wirkt. Nun ist sie gestorben, kurz vor ihrem 99. Geburtstag.
Sie zu treffen, war immer warm und froh, sie war beharrlich, zupackend, fordernd. Dabei mit einem herzlichen Lächeln und einem ansteckenden Lachen. Klein, mit großem Herzen für ihren 230 Hektar großen Stadtteil, der Goseburg und Zeltberg umfasst. So richtig losgelegt habe sie, als sie in Rente ging, erinnert sich ihre Tochter Kerstin Steffens, die in ihrem Elternhaus lebt.
Gisela Menke zog mit ihrer Familie 1938 "aufs Land" zur Siedlergemeinschaft Am Graben. Sie hat es so erzählt: "Nebenan war ein Bauernhof, mit Hühnern und Schweinen.". Die 16 Siedler der ursprünglichen Gemeinschaft erhielten zwischen 1400 und 1600 Quadratmeter Land, für eine Reichsmark pro Quadratmeter. Sie bauten Häuschen, nebenbei beackerten die Arbeiter und kleinen Angestellten den Grund. Kurze Zeit später war die Landwirtschaft Gold wert: In Kriegszeiten konnten die Familien ihren Speiseplan mit Obst und Gemüse bereichern. Die Siedler stotterten die Kosten für ihr Land bei der "Niedersächsischen Heimstätte GmbH" ab, im Monat mit 29,50 Reichsmark: "Das war ein Wochenlohn meines Vaters."
Knäckebrotfabrik, das Wachswerk Vogelsang, die Margarinefabrik Kausch und Ibus gaben damals vielen Lohn und Brot. "Aber Ibus wurde zur Plage, als es ein Spanplattenwerk eröffnete." Filter reichten und funktionierten nicht, dicker Staub setzte sich überall fest. Die Mutter Gisela Menkes marschierte in den 1960er Jahren ins Rathaus und warf dem Verwaltungschef einen Kohlkopf auf den Tisch -- ungenießbar, weil voller Holzmehl. Eine „Notgemeinschaft" machte mobil, mit Erfolg: Mitte der 70-er Jahre schloss Ibus wegen der Umweltbelastung und weil es sich nicht mehr rechnete.
Den Widerstandsgeist der Mutter und deren Engagement erbte die Tochter. Zwar zog sie mit ihrer Familie für zehn Jahre nach Kirn in Rheinland-Pfalz, doch als die Eltern Hilfe brauchten, kamen die Menkes zurück -- in die Goseburg. Die war grau und laut von Arbeit. Und ein Stück weiter liebenswert: Breite Wiese, Buntenburger- und Papenburgerweg, da kuscheln sich Siedlungshäuser aneinander, zigmal um- und ausgebaut, es wirkt wie eine riesige Gartenkolonie. Auf der anderen Seite, unten an der Ilmenau, da kann man auf dem alten Treidelpfad bis Bardowick laufen, hinter Firmengeländen und Wiesen.
Gisela Menke nahm die laute, dreckige, arbeitsame Goseburg nicht hin. Mit anderen Siedlern machte sie mobil, die Goseburgstraße, mit einem Lkw-Verkehr wie auf einer Autobahn, erhielt erst ein neuen Belag, der den Lärm etwas dämpfte. Zu wenig, lange stritten sie für eine Entlastungsstraße, die kam 2010/11 als Coca-Cola-Straße, der Limo-Produzent lenkte seinen Lkw-Strom um.
Von 2001 bis 2011 saß sie für die SPD im Rat, ein großes Thema war das Soziale. "Die CDU und die SPD haben sie gefragt, ob sie bei ihnen mitmachen will, weil sie sich einsetzte", sagt ihre Tochter Kerstin. Doch es zog sie zu den Sozialdemokraten. Das passte auch besser zur Goseburg, dem roten Viertel der 1920er und 1930er Jahre, in dem Arbeiter, Kommunisten und Sozis zu Hause waren. Noch heute fährt die SPD hier respektable Wahlergebnisse ein. Sicher auch wegen solcher Menschen wie Gisela Menke.
Als Bürgerin, später als Ratsfrau für die SPD, setzte sie sich für ihre Ecke ein. Ins alte Schulhaus an der Breiten Wiese zog eine Kita für Kinder mit Behinderungen, 1997 eine Erweiterung -- bunt wie ein Regenbogen. Gisela Menke hatte sich dafür eingesetzt. 2019 saß sie bei einem Fest mitten drin, herzlich willkommen, denn man wusste, wie sie sich eingesetzt hatte. Die alte Dame strahlte und freute sich, was in den Jahren erreicht wurde: "Klasse."
Auch für JuCon hatte sie sich stark gemacht, denn neben der Kita gibt es in Containern ein kleines Jugendzentrum. "Das wäre woanders besser aufgehoben, aber wir haben hier keine öffentlichen Flächen", hatte sie damals gesagt. Sie hat in Zusammenarbeit mit Paritätischem und der Stadt an der Straße Am Graben einen Treffpunkt für Senioren eingerichtet. Computerkurse, Klönen, Basteln, Spielen, Feiern. Sie war mittendrin, selbstverständlich brachte sie zur Kaffeerunde wie die anderen selbstgebackenen Kuchen mit.
So viel anderes noch: Als 2009 die Busbverbindungen gekürzt wurden, wurde sie ebenso aktiv wie zwei Jahre vorher, als der Treidelpfad an der Ilmenau als Spazier- und Radweg auf Vordermann gebracht werden musste. Ich weiß nicht, ob sie es so gesehen hat, aber es war Politik mit einer Vision, aus Verantwortung und -- wenn es auch pathetisch klingt -- Liebe für die Menschen.
Sie bekam einen Orden des Bundespräsidenten. 2002 schrieb die Stadt in einer Pressemitteilung: "Mit dem Einsatz von Gisela Menke hat sich die Wohn- und Lebensqualität für die Bürgerinnen und Bürger im Stadtteil Goseburg entscheidend verbessert", sagte Oberbürgermeister Ulrich Mädge in seiner Laudatio im Rathaus. Gisela Menke war es immer ein Anliegen, auf den „vergessenen Stadtteil" aufmerksam zu machen. „Ich hatte damals den Eindruck, dass kein Politiker, keine Stadtverwaltung und auch sonst niemand an der Goseburg interessiert war", so die 77-Jährige. Für viele sei der Stadtteil nur ein Industriegebiet gewesen: „Dabei standen dort bereits 1902, lange vor der ersten Firmenansiedlung, die ersten Häuser."
Und weiter: "Im Stadtrat engagierte sie sich besonders für den Ausbau der Goseburgstraße und sorgte für sichere Fuß- und Radwege entlang der Straße. Auch für einen Spielplatz an der Moorweide, für die Kita „Regenbogen", den Jugendtreff „JuCon" und den Bürgertreff für Senioren in der Goseburg machte sie sich stark."
Vor zwei Jahren stürzte sie, sie zog ins Seniorenheim Domicil. Ihre Tochter Kerstin erzählt, dass sie auch da das schuf, was ihr offenbar ein Leben lang glückte: Gemeinschaft. "Nach dem Kaffee traf sich rund um meine Mutter eine Runde im Foyer oder im Garten zum Klönen." Es wurde viel gelacht. Das Leben kann ein großes Glück sein, wenn man es zulässt. Wenn es Menschen gibt, wie Gisela Menke, die beharrlich, hartnäckig, fordernd sind und begeistern können.
Sie habe am Leben gehangen, sagt ihre Tochter Kerstin. Habe eigentlich nicht recht fassen können, dass sie irgendwann gehen müsse. Nun war es soweit. Sie ging friedlich. Eine kleine Frau, die sehr groß war. Carlo Eggeling
Das Bild, das ihre Familie zur Verfügung stellt, steht im Wohnzimmer. Andere von ihr habe ich vor zwei Jahren bei einem Rundgang durchs Viertel gemacht.
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