Eine Botschaft von damals — auf dem Kreideberg endet eine Ära
von Carlo Eggeling am 20.04.2025Ostersamstag. Eine Ära geht zu Ende. Es ist ein Fest und eine Trauerfeier. Ein Fest, weil manche in dieser Kneipe ihr halbes Leben zugebracht haben, was für eine Freude! Eine Trauerfeier, weil Schluss ist, weil eine Art zu Hause wegbricht, weil Wirt Ulli Bernhardt so angegriffen ist, dass er vor ein paar Tagen ins Seniorenheim in Reppenstedt umziehen musste -- das Lokal Zum Kreideberg am Thorner Markt hat keine Zukunft mehr. 1969 übernahm Bernhardt mit seiner Frau Anneliese die Mischung aus Restaurant und Kneipe, nach 56 Jahren heißt es, Abschied nehmen. So lange wie Ulli dürfte in der Region wohl kaum ein Wirt am Tresen gestanden haben.
Der letzte Abend. Stammgäste. Krombacher aus Flaschen, dazu Mischer und Jägermeister. Kiki muss weinen: "Ich komme seit 1994 hier her." Sie sei so alt wie die Kneipe: "Dass nun Schluss ist, kann ich kaum glauben." Sylvie kennt das Lokal "mein Leben lang, meine Oma hat hier saubergemacht und in der Küche geholfen". Sie verliert ein Stück Heimat.
Bernhardt setzte schon länger auf Hilfe. Sein Refugium war der Stammtisch, hocken auf einer Bank, neben sich der Rollator. Er machte die Buchführung: Wer ein Bier oder eine Cola wollte, nahm sich das Getränk aus dem Kühlschrank, Ulli machte Striche und kassierte später. Martin Idschinski stand dem Wirt zur Seite: "Aus Freundschaft." Der 40-Jährige sagt: "Ich bin als Kind schon hier gewesen, da gab es Cola und Pommes." Familienkneipe.
Nun schmeißt er den Tresen am letzten Abend. Macht irgendwann die Abrechnung, räumt auf. "Nächste Woche ist Übergabe mit dem Vermieter, was dann kommt, weiß ich nicht." Ob es noch einmal ein Lokal wird, bleibt also ungewiss. Damit verschwindet eine der letzten Eckkneipen der Stadt, die letzte auf dem Kreideberg. Es gibt noch Lokale, in denen die Wirte Döner und Pizza servieren, aber diese Art Gemütlichkeit wird nun beerdigt.
Ich habe Ende 2023 einen Bericht über das Lokal und Ulli Bernhardt für das Quadrat-Magazin geschrieben, den hänge ich an den Text an. Lieber Ulli Bernhardt, alles Gute für Deine letzten Jahre, Danke für dieses Stück Lüneburger Lokal-Geschichte und vergnügliche Abende. Carlo Eggeling
Eine Botschaft von damals
+ Ulli Bernhardt ist Lüneburgs ältester Wirt, er wird jetzt 85. Seit mehr als einem halben Jahrhundert empfängt er Gäste im Lokal Zum Kreideberg. Eine Lokal-Geschichte des Stadtteils und eine Zeitreise
Ein halbes Jahrhundert haben die Gardinen durchgehalten, Abertausende Zigaretten, die fettige Dunstmischung von Curry-Pommes, das Schwitzen verlorener Skatrunden. Gilb statt beige, obwohl die Vorhänge regelmäßig gewaschen wurden. Selbstverständlich. Doch jetzt wollten die Rollen nicht mehr zurück auf die Schienen. Schluss damit, Ersatz. Eine Folie, ein bisschen wellig verklebt, bietet halbherzig einen gewissen Sichtschutz. „Vorhänge, das ging nicht mehr“, bedauert Ulli Bernhardt. „Machen wir anders.“ Vergänglich. Er lächelt wie ein weiser König, der weiß, sein Reich geht erst unter, wenn er sich verabschiedet. „Zum Kreideberg“, heißt sein Thronsaal, 1969 eröffnete er das Lokal mit seiner Frau. Jetzt feiert Bernhardt seinen 85. Geburtstag, wohl als ältester Wirt in Stadt und Landkreis Lüneburg.
15, 20 Stammgäste habe er noch. Wo sollten die hin? Wo sollte er hin? „Ob ich oben in meiner Wohnung sitze oder hier.“ Sein Wohnzimmer liegt vier Etagen darunter, hier. Auf der in verblichenem rotem Muster gepolsterten Holzbank glimmt das Licht einer Rechenmaschine, Belege stapeln sich, auf dem Tisch ein Becher mit einem kalten Kaffee-Milch-Gemisch und eine Literpackung Vollmilch. Er trinke keinen Alkohol: „Noch nie.“ Neben ihm Vogelfiguren, eine Tafel mit den „acht Geboten für den braven Ehemann“, über ihm Bilder mit seiner Frau Anneliese und deren Traueranzeige von 2016. Irgendwie scheint sie nicht so ganz gegangen zu sein.
Die Lokal-Geschichte erzählt auch eine Geschichte des Landes, den Alltag des Stadtteils, der Mitte der 1960er Jahre wuchs. Bungalows, acht Hochhäuser, Blocks mit kleinen und großzügigen Wohnungen, praktisch für junge Familien und Paare. Heute leben im Viertel knapp 8000 Menschen. Damals luftig geplant mit Sportanlagen, Schulen, Kleingartenkolonien. Straßennamen wie eine Mahnung, den ehemaligen deutschen Osten und die deutsch-deutsche Teilung nicht zu vergessen: Elbinger, Salzwedler und Leipziger Straße. Thorner Markt als Zentrum. Damals zwei Supermärkte, Post, Apotheke, Bäcker, Blumenladen, Friseur, Schlachter, Schuster, Drogerie und ein Lokal. Vorbei.
Die Post ist verschwunden, statt Blumen Tattoos, statt frischer Brötchen Döner, ein Supermarkt reicht auch, dafür die Sparkasse mit großem SB-Bereich, mit Schaltern nur sparsam geöffnet. „Ich habe sie alle überlebt“, bilanziert Bernhardt. Heute lebt das Lokal ein anderes Leben, Aufschwung, Erfolg, verblichener Glanz. Damals vier Konfirmationen an einem Tag, 40 Plätze im Lokal, 40 im Clubraum, Hochzeiten, Soldaten, die um sechs kamen, schnell was essen, abends um acht auf die „Piste“. Curry-Pommes für 2,50 Mark, der Geflügelsalat Florida mit Toast und Butter für einen Heiermann; wer‘s dicke hat, bestellt ein Filetsteak mit Champignons für 7,50, dazu ein Glas Moravia für 70 Pfennige. „Es lief“, erinnert sich Bernhardt. 47 000 Mark habe er für die Einrichtung zahlen müssen. „22 000 hatte ich.“ Den Rest streckt ihm sein Bekannter Fritz Sallier vor: „Konnte ich ihm nach drei Monaten zurückzahlen.“
Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Sallier ist ein umtriebiger Geschäftsmann, im Immobiliengeschäft zu Hause. Mit einem Partner betreibt er im achten Stock die Panorama-Bar. Auf dem Berg gelegen, erahnen die Gäste aus den Fenstern die Lichter Hamburgs. „Die Idee war, die Leute essen erst bei uns, danach fahren sie mit dem Fahrstuhl hoch und trinken etwas.“ Andere, klare Zeiten: Steinhäger und Dornkaat gibt‘s das Glas für 1,20 Mark.
Die Verbindung zerbricht jäh, im Januar 1972 steht die Bar in Flammen. Bernhardts sanfte Stimme färbt sich dunkler: „Im Winter – das Wasser der Feuerwehr kam gar nicht hoch, weil die Leitungen gefroren waren. Damals lag unsere Wohnung direkt darunter.“ Mehr als 300 000 Mark Sachschaden bilanziert die Landeszeitung in ihren Berichten. Die Bernhardts machen weiter.
Jugendliche der Christianischule gegenüber entdecken die Kneipe, die vormittags von 10 bis 13 Uhr öffnet. Nicht alle tranken Cola, erzählen heute Herren im besten Alter, die damals dabei waren. Mittagspause, um 17 Uhr beginnt die zweite Schicht. Alles eingespielt. „Anneliese hatte Köchin gelernt im Hotel Scheffler, die hat es mir beigebracht“, erzählt Bernhardt. Er ist in der Küche, sie am Tresen, „Schnitzel-Taxi“ Barney Quiatkowski kurvt an die Tische, vier Jahrzehnte arbeitet der Kellner für die Bernhardts. Inzwischen ist er gestorben.
Einiges ändert sich, es wird ruhiger. 2008 gilt das Rauchverbot in der Gastronomie in Niedersachsen, wenn sie Speisen anbietet. Manche bleiben weg. Als Anneliese 2016 stirbt, sei endgültig Schluss mit der kleinen Küche gewesen. Die Musikbox, in der es so viele Lieder für jede Stimmung gab, muss weichen: „Hat keiner mehr gewollt.“ Nun dämmert ein Dart-Automat in der Nische, wenn einer spielen will, schaltet er ihn ein.
Im Radio läuft NDR Hamburg 90,3. Wenn Bernhardt es gemütlicher möchte, setzt er auf die Konserve, Andrea Berg mag er, noch lieber Andrea Jürgens. „Das ist schön.“Fassbier hat er abgeschafft. Bier kauft er kistenweise, am liebsten mögen die Gäste Krombacher mit Bügelverschluss. „Das nehmen sie aus dem Kühlschrank und kommen zu mir zum Bezahlen“, sagt Bernhardt, der einen Rollator neben sich stehen hat. Einfache Buchführung, alles kostet je zwei Euro, Mischer 2,50: „Ist ein doppelter Schnaps, die Cola ist umsonst.“
Tino kommt an den Tisch. Spätestens seit seine Mutter gestorben ist, „das war vor eineinhalb Jahren“, wurde die Kneipe zu einer Art Zuhause. Er geht für Bernhardt einkaufen, regelmäßig. Heute sollen es zwei Stücke Leber und Grützwurst sein. Nach einer Viertelstunde trabt er wieder rein aus dem Supermarkt gegenüber, mit Bon und Wechselgeld. Er freut sich, Aufgaben zu übernehmen: „Ich bin der gute Geist des Hauses.“
Andere kommen. Susi will mit Bekannten knobeln, sie wartet mit ihrer Cola und Prospekten aus dem Anzeigenblatt. Es wird ein ganz normaler Abend am Kreideberg. Bernhardt sagte, er schlafe immer erst spät, drei, vier Uhr in der Nacht. Das passe alles ganz gut. Seinen Service, Gäste nach Hause zu fahren, habe er eingestellt – nach einem Unfall mit einer Rotte Wildschweine, das sei teuer gewesen. Neues Auto: „Ich muss ja einkaufen.“ Ab und an packt sein Sohn mit an.
Noch was wichtig? Klar! Die Sportzeit. Fußball! Mit acht Jahren sei er mit seiner Mutter zum LSK gelaufen. Da begann eine Liebe. Er trainierte, spielte von 1964 bis 1968 in der 1. Mannschaft, führte ein Jahr die Vereinsgaststätte in Wilschenbruch. Da feierte er mit seiner Anneliese den Polterabend. Später andere Vereine. Er engagierte sich im Präsidium der Freien Sportvereinigung Lüneburg, war 1971 an der Fusion mit dem Hagener Sportclub zur LSV beteiligt. Es tut ihm weh: „Zum 50. Jubiläum haben sie mich nicht mal eingeladen. Als Gründer.“
Jetzt sitzt er da, der kleine schmächtige König mit dem großen Herzen, der einer Frau schon mal die Miete vorgestreckt hat: „Das Geld habe ich nie wieder gesehen.“ Die Feier für seinen Geburtstag hat er organisiert, mit Livemusik, ein Duo, die Dame soll Warmes der Griechin Nana Mouskuri singen. Ein Fest für die, die geblieben oder dazugekommen sind. Wie man es so macht. Etwas fürs Gemüt auch für die, die hier ein bisschen weniger einsam und allein wirken.
Es ist Abend geworden. Keine Leuchtreklame behauptet sich gegen die Dunkelheit, über den sieben Tischen mit den grünweiß-karierten Decken funzelt eine Kupferlampe. Susi, ihr Bekannter und Ulli Bernhardt knobeln und haben Spaß bei einem Schnack. Eine Frage, die sein muss zum Schluss: Wann ist Schluss? Der Wirt lacht und sagt: „Die Gäste erwarten, dass ich hundert werde.“
Die Fotos zeigen Momente aus dem Lokal und Erinnerungen an vergangenen Zeiten. Wirt Ulli Bernhardt hatte seinen Stammplatz auf einer Bank, eingebaut in seine "Buchhaltungen" und eine Zeitreise. Am letzten Abend prosten seine Stammgäste dem freundlichen Mann zu, er lebt jetzt in einem Heim in Reppenstedt.
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