Lüneburg, am Samstag den 26.04.2025

Drei besondere Wochen in Lüneburg

von Carlo Eggeling am 08.02.2025


Meine Woche
Zuversicht

Haben Sie es auch gemerkt? In den vergangenen drei Wochen ist der Rechtsstaat beinahe zusammengebrochen. Also in Lüneburg. "Ein Staat versagt", stand in der Zeitung. Claudia Kalisch kommentierte: "Ich hoffe und erwarte von allen beteiligten Behörden und Gerichten, die rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um für mehr Sicherheit der Menschen in unserer Stadt zu sorgen." Dass eine Oberbürgermeisterin sich in ein strafrechtliches Verfahren einmischt und von der Justiz "erwartet", dass sie handelt, ist gelinde gesagt bislang ungewöhnlich gewesen.

Ministerien schalten sich ein. Im Internet hyperventiliert ein Kanal, der irgendwie die grüne Verwaltunschefin und die AfD in einen Guss bekommt. Von 50 Straftaten in 30 Tagen ist die Rede. Am Donnerstag verhandelt das Amtsgericht den Fall. Das Urteil spricht von drei Körperverletzungen, einmal Widerstand, einmal Bedrohung und viermal Betrug wegen Zechprellerei. Die mehr als 40 anderen Vorfälle wurden nicht verhandelt, es geht um Ordnungswidrigkeiten, Hausfriedensbruch zum Beispiel.

Der Richter sagt, mit solchen Vorwürfen hätten Polizei und Justiz hundertfach zu tun jedes Jahr. Nur dass es sich statt Zechprellerei eher um Ladendiebstähle handle, weil Leute Hunger hätten oder unter Druck stünden, klauten sie. Binnen drei Wochen hätten die Behörden eine Abschiebung sowie in einem Schnellverfahren die mögliche Höchststrafe von einem Jahr erwirkt. Dass eine erste Abschiebungsverfügung gescheitert sei, habe formale Gründe gehabt. Dieses Verfahren läuft rekordverdächtig zügig. Staatsversagen? Ausnahmezustand?

Blödsinn. In Richtung Politik und Oberbürgermeisterin, die ein grünes Parteibuch besitzt, sagte der Richter: Man handle nach Recht und Gesetz, zudem solle die Politik die Justiz so ausstatten, dass sie eben arbeiten könne. Denn klar ist: Der Fall des 30-jährigen Afrikaners ist insofern besonders, weil er so schnell vor Gericht gelandet ist. Das lag gerade an der Polizei, die im Nu die Ausländerbehörde im zuständigen Landkreis Harburg eingeschaltet hatte, aber ebenso am öffentlichen Druck.

Vollkommen richtig, dass der Beschuldigte nach Guinea-Bissau abgeschoben wird. Mitgefühl für die Bäckereiverkäuferin, die er zweimal geschlagen und gewürgt hat, die unter Tränen aussagte und an den Folgen leidet, das gilt auch für die Polizistin, die er angegangen ist und die verletzt wurde.

Aber wie kann man in der Zeitung so einen Satz schreiben? "Es mag populistisch klingen, aber um den Mann zu stoppen, muss er wohl erst zum Messer greifen." Was soll das bezwecken? Was ist das, ein Aufruf? Zu was?

Eine Stimmung entscheidet über Recht und Gesetz? Pflichtverteidiger Moritz Klay sagt: "Der Volkszorn mag es nicht verstehen, das ist der Rechtsstaat." Er wundere sich über die Berichterstattung als auch über die Politik, womit Claudia Kalisch gemeint sein dürfte und der grüne Fraktionschef, der im Gerichtssaal saß: "Absolut unüblich." Und jeder möge sich überlegen, dass er selber einmal vor Gericht stehen könne. Dann wisse man die eigenen Rechte zu schätzen und zu nutzen.

Wahlkampf? Kanzlerkandidat Robert Habeck plakatiert mit güner "Zuversicht". Wo ist die, wenn das Funktionieren des Rechtsstaates eben von einer Repräsentantin des Rechtsstaates angezweifelt wird? All das ja vor dem Hintergrund von Zuwanderung, die nur als Gefahr wahrgenommen wird. Zuversicht würde bedeuten, vor allem von denen zu sprechen, die uns den Hintern abwischen, wenn wir alt sind, die als syrische Ärzte operieren, bei denen wir Technik einkaufen, bei denen wir türkisch, asiatisch oder griechisch Essen gehen. Zuversicht würde bedeuten, ein Konzept von stadtteilorientierter Gemeinwesenarbeit vorzulegen. Ein gestrichenes Stadtteilhaus für das mit Menschen aus 80 Nationen pulsierende Kaltenmoor und Karo-einfach-Büros als großen Wurf zu würdigen und eine Kirche die Wohnraum streicht, passt eher nicht.

Selbstverständlich muss Politik über Zuwanderung reden. Über Klassen, in denen die Hälfte der Kinder kein oder nur wenig Deutsch spricht. Über Arbeit statt Sozialleistungen. Über das Anerkennen von Regeln, darüber, wen wir haben wollen und wen nicht. Über Frauenbilder, die nichts mit Freiheit zu tun haben. Grenzen müssen sicherer werden, europäisch. Zuversicht.

Einiges in diesem Drama -- für die Opfer ist es eins und die verdienen Respekt und Anteilnahme -- wirkt peinlich und abstoßend. Eine Oberbürgermeisterin, die ansonsten angeblich keine Zeit für Interviews besitzt, steht gemeinsam mit Referentin und Pressestelle gegenüber des Gerichts, um Fernsehbilder zu liefern. Öffentlichkeitsarbeit? Auf der Straße. Warum sie das überhaupt machen muss, bleibt fraglich. Und wenn, bittet man angemessen ins Rathaus für alle Kollegen. Die Anwort auf eine Nachfrage: "Dies war eine Ausnahmesituation für Lüneburg: Ich bin immer wieder angesprochen worden, dass sich Menschen in unserer Stadt ängstigen und große Sorgen haben. Die Verunsicherung wuchs täglich und hatte spürbar Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl in der Innenstadt."

Peinlich auch eine Redaktion, die sich nach kritischen Worten eines Richters eine Seite lang rechtfertigt und versucht den Spieß umzudrehen, anstatt sich zu fragen, was besser laufen könnte. Wo bleibt eine klare Distanzierung gegenüber einem Facebook-Volkszorn-Kanal, der sich bedankt bei Bildzeitung, LZ, der Oberbürgermeisterin und der AfD.

Die AfD. War es nicht so, dass sich die Grüne Partei im Bundestag gerade da deutlich von der CDU abgegrenzt hat? Was macht eine Redaktion, die vor ein paar Monaten auf Seite 1 wortreich Stellung gegen Rechts bezogen hat? Ich habe nirgends gesehen, dass man irgendwelchen anonymen Halb- und Dreiviertel-Rechtsextremisten nichts zu tun haben will.

Ich frage mich so oft, wo bleiben die Parteien im Rat, die das Geschehen hinterfragen, wo die vielen Organisationen, die meinen, für eine bessere Welt einzustehen, wo bleibt die Erklärung des Anwaltsvereins, der ein Bekenntnis für den Rechtsstaat und seine Institutionen veröffentlicht und sich gegenüber Einmischung positioniert.

Es reicht nicht, auf dem Markt die ewigen Parolen gegen Menschenfeinde zu rufen und Lichterketten als große Tat zu verstehen. Für den Rechtsstaat muss man einstehen. Auch wenn einem nicht alles gefällt. Carlo Eggeling

© Fotos: ca


Kommentare Kommentare

Kommentar von Frank Triebe
am 08.02.2025 um 18:21:08 Uhr
Wieder einmal eine sehr gute Analyse eines unwürdigen Schauspiels. Und erfreulich, dass es einen Richter gibt, der klare Worte spricht, auch wenn bestimmte Leute diese Worte nicht hören mögen.
Kommentar von Bärbel H
am 08.02.2025 um 20:06:02 Uhr
ca hat klare informative Aufklärung gegeben. Danke
Kommentar von Ditmar Frommke
am 09.02.2025 um 17:47:45 Uhr
Aus der Seele gesprochen.! ❤️✨️mit Herz und Verstand.
Danke Carlo


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